Viele Wege führen ins Winterquartier: Muster der saisonalen Zugbewegungen der Fledermäuse komplexer als bisher angenommen
Einige Fledermausarten ziehen im Spätsommer aus dem Norden Europas entlang der Küstenlinien in ihre Überwinterungsgebiete in Zentral- und Westeuropa. Bisher galt die Vermutung, dass alle Fledermäuse dabei dieselbe Richtung einschlagen. Die Realität ist jedoch komplexer. An der lettischen Ostseeküste rekonstruierte ein Forschungsteam unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) mit Hilfe von Ultraschallmikrofonen die Flugbahnen von Rauhautfledermäusen. Die Tiere flogen im Spätsommer mehrheitlich nach Süden, an manchen Tagen war jedoch ein Fünftel der Tiere – vermutlich wetterbedingt – in entgegengesetzter Richtung gen Norden unterwegs. An den Küsten und auf hoher See von Nord- und Ostsee wächst die Anzahl der Windkraftanlagen beständig. Weil sich Fledermäuse also länger als bisher bekannt entlang der Küstenlinien aufhalten und zum Teil auch auf hohe See ausweichen und „Umwege“ fliegen, stellen diese Windkraftanlagen eine größere (tödliche) Gefahrenquelle dar, als bisher angenommen wurde, schließt das Team in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Global Ecology and Conservation“.
Die europäische Rauhautfledermaus hält unter den Fledermäusen den Langstreckenweltrekord im saisonalen Zug. Tiere, die im Baltikum und Russland beringt wurden, wurden zum Beispiel in mehr als 2.000 km Entfernung in Nordspanien wiedergefunden. Für die 8 Gramm schweren Tiere ist das eine beträchtliche Leistung. Während des Zugs sollten die Tiere also ohne Umwege ihr Überwinterungsgebiet anstreben. Rauhautfledermäuse ziehen besonders entlang der Küstenlinien der Nord- und Ostsee. Derartige Migrationskorridore sind für ziehende Tiere wie Autobahnen. Bislang herrschte die Vorstellung, dass es für die Fledermäuse auf diesen „Autobahnen“ im Spätsommer nur in eine Richtung ging, nach Süden und Südwesten in Richtung der Überwinterungsgebiete in Zentral- und Westeuropa. Ein Hin und Her würde Energie kosten, die eigentlich für den Winterschlaf im Überwinterungsgebiet benötigt wird.
„Rauhautfledermäuse aus dem Baltikum könnten jedoch neben der Hauptzugrichtung Süden zunächst auch nach Norden fliegen, um eventuell die Ostsee von Finnland aus nach Schweden zu queren“ berichtet Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW. „Da Fledermäuse allerdings aufgrund ihrer geringen Größe und nächtlichen Lebensweise nur schwer zu beobachten sind, mussten wir uns einer besonderen Technik bedienen, um die Flugrouten zu rekonstruieren und diese Annahme zu bestätigen oder zu entkräften.“
Fledermäuse stoßen zur Orientierung in der Nacht und bei der Insektenjagd hochfrequente, für den Menschen nicht hörbare Rufe aus. Derartige Echoortungsrufe lassen sich über Ultraschalldetektoren erfassen. Werden mehrere Ultraschalldetektoren synchron betrieben, lässt sich aus Laufzeitdifferenzen, die sich aus unterschiedlichen Wegstrecken zwischen der echoortenden Fledermaus und den Mikrofonen ergeben, die Raumposition der Fledermaus ermitteln. „Wir setzten ein System aus acht Ultraschallmikrofonen ein, die in definiertem Abstand zueinander auf einem Metallgestänge befestigt sind, und konnten so für individuelle Fledermäuse ihre exakte Raumposition ermitteln“, erläutert Jens Koblitz vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz. „Aus aufeinanderfolgenden Raumpositionen lässt sich die Flugbahn jeder erfassten Fledermaus rekonstruieren“.
Das Team erfasste auf diese Weise in drei Sommernächten die Flugbahnen von mehr als 400 ziehenden Rauhautfledermäusen an der lettischen Ostseeküste. Die Mehrzahl der Fledermäuse zog der Küstenlinie folgend gen Süden. Allerdings beobachteten die Forschenden an einem Tag, dass ein Fünftel der Tiere gen Norden flog, während die Mehrheit die naheliegende Route Richtung Süden einschlug. Die Ursachen hierfür sind noch unklar. Möglicherweise können ungünstige Wetterverhältnisse auf der Zugstrecke dazu führen, dass Rauhautfledermäuse Richtung Norden ausweichen und eine alternative Route wählen. Oder sie fliegen eine kurze Strecke im Migrationskorridor zurück, um auf günstigere Bedingungen für den Weiterflug zu warten.
„Wir entdecken jedes Jahr neue interessante Details über den Fledermauszug“ fasst Gunārs Pētersons, Professor an der University of Life Sciences and Technologies im lettischen Jelgava, die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. „Mir bereitet das Hin und Her der Fledermäuse allerdings Sorge, da es an den Küstenlinien immer mehr Windkraftanlagen gibt und die Tiere länger in diesen Gefahrenzonen unterwegs sind, wenn sie nicht den direktesten Weg wählen.“
Aktuell werden von den Anrainerstaaten der Ostsee und Nordsee Tausende von Windenergieanlagen betrieben oder in naher Zukunft aufgestellt, da Küstenstandorte starken und steten Wind und somit eine hohe Energieproduktion versprechen. Da insbesondere ziehende Fledermäuse an Windenergieanlagen versterben, steht die Windenergieproduktion an den Küsten potenziell mit Naturschutzzielen in Konflikt. „Ziehende Tierarten sind besonders anfällig gegenüber Lebensraumveränderungen, da sie davon abhängig sind, dass eine Vielzahl von Lebensräumen zu genauen Zeitpunkten die passenden Lebensbedingungen aufweisen. Für die Rauhautfledermaus ist beispielsweise jeder ökologische Trittstein zwischen den Fortpflanzungsstätten im Norden und den Überwinterungsgebieten lebenswichtig“, sagt Christian Voigt. „Deshalb stehen Zugvögel wie auch ziehende Fledermäuse unter dem besonderen Schutz des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Deutschland und viele Anrainersatten der Ost- und Nordsee haben sich vertraglich dem Schutz von ziehenden Tierarten verpflichtet. Die UN-Konvention zum Schutz migrierender Tiere gebietet, neben dem Naturschutzrecht der EU und dem nationalen Naturschutzrecht, den Anrainerstaaten von Ost- und Nordsee dafür Sorge zu tragen, dass Zugfledermäuse wohlbehalten zwischen ihren Sommer- und Winterlebensräumen wandern können.“ In ihrem Aufsatz fordert das Forschungsteam daher, dass der Windenergieausbau an den Küstenstandorten mit großer Sorgfalt und Umsicht erfolgen muss. Es sollte ausreichend Platz für die ziehenden Fledermäuse verbleiben. Dann erreichen auch in Zukunft Langstreckenflieger wie die Rauhautfledermaus ihr Ziel.
Publikation
Voigt CC, Kionka J, Koblitz JC, Stilz P, Pētersons G, Lindecke O (2023): Bidirectional movements of Nathusius’ pipistrelle bats (Pipistrellus nathusii) during autumn at a major migration corridor. Global Ecology and Conservation. DOI: https://doi.org/10.1016/j.gecco.2023.e02695
Kontakt
Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)
im Forschungsverbund Berlin e.V.
Alfred-Kowalke-Str. 17, 10315 Berlin, Deutschland
PD Dr. Christian Voigt
Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie
Telefon: +49(0)30 5168 511
E-Mail: voigt@izw-berlin.de
Jan Zwilling
Wissenschaftskommunikation
Telefon: +49(0)30 5168121
E-Mail: zwilling@izw-berlin.de
Latvia University of Life Sciences and Technologies
Faculty of Information Technologies
Lielā Street 2, Jelgava, LV-3001, Lettland
Dr. biol. Gunārs Pētersons
Professor (assoziiert)
E-Mail: gunars.petersons@lbtu.lv