Bestandaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland vorgestellt

Cover des "Faktencheck Artenvielfalt" (Quelle: FEdA/Oekom-Verlag)
Cover des "Faktencheck Artenvielfalt" (Quelle: FEdA/Oekom-Verlag)

Der heute erschienene „Faktencheck Artenvielfalt“ zeigt erstmals umfassend, wie es um die Biodiversität in Deutschland tatsächlich steht, identifiziert deren Trends und Treiber, gibt aber auch Empfehlungen, dem Verlust entgegenzuwirken und arbeitet Forschungsbedarfe heraus. Mehr als 150 Wissenschaftler*innen aus 75 Institutionen haben das Werk geschrieben. Das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) war in Person von Prof. Dr. Stephanie Kramer-Schadt maßgeblich am Kapitel „Urbane Räume“ beteiligt.

Mehr als die Hälfte der natürlichen Lebensraumtypen in Deutschland weist einen ökologisch ungünstigen Zustand auf, täglich verschwinden weitere wertvolle Habitatflächen. Die Konsequenz: Populationen von Arten schrumpfen, verarmen genetisch oder sterben aus – mit direktem Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise von Ökosystemen. Ein Drittel der Arten sind gefährdet, etwa drei Prozent sind bereits ausgestorben. Der „Faktencheck Artenvielfalt“ zeigt erstmals umfassend, wie es um die Biodiversität in Deutschland tatsächlich steht, identifiziert deren Trends und Treiber, gibt aber auch Empfehlungen, dem Verlust entgegenzuwirken und arbeitet Forschungsbedarfe heraus.

In kaum einem Land wird so viel zur biologischen Vielfalt geforscht wie in Deutschland. Für den Faktencheck Artenvielfalt (FA) haben mehr als 150 Wissenschaftler*innen von 75 Institutionen und Verbänden nun die Erkenntnisse aus über 6000 Publikationen ausgewertet, und in einer eigens dafür entwickelten Datenbank zusammengeführt. Um langfristige Entwicklungen zu erkennen, haben sie einen bisher noch nicht dagewesenen Datensatz von rund 15.000 Trends aus knapp 6200 Zeitreihen erstellt und analysiert. „Der Faktencheck Artenvielfalt ist weltweit eines der ersten Beispiele, wie große internationale Berichte – wie die globalen und regionalen Assessments des Weltbiodiversitätsrates IPBES – auf einen nationalen Kontext zugeschnitten aussehen können; mit dem Ziel, Handlungsoptionen für die konkrete nationale und subnationale Politik aufzuzeigen und zu entwickeln“, erklärt Christian Wirth, Professor an der Universität Leipzig und Mit-Herausgeber des FA.

Die Ergebnisse sind ernüchternd. Insgesamt sind 60 Prozent der 93 untersuchten Lebensraumtypen in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. Der FA stellt nur wenige positive Entwicklungen fest, wie beispielsweise in Laubwäldern – doch diese werden akut vom Klimawandel bedroht.

10.000 Arten in Deutschland sind bestandsgefährdet

Besonders wenige Daten gibt es über die Bodenbiodiversität und die Artenvielfalt in den stetig wachsenden urbanen Räumen. „Wo die Datengrundlage vorhanden ist, stellen wir ein anderes Problem fest: Es gibt kein einheitliches, arten- und lebensraumübergreifendes System, um biologische Vielfalt zu erfassen. Das erschwert die Verknüpfung von Daten – und damit die wissenschaftliche Auswertung. Außerdem fehlen Langzeitdokumentationen. Der Großteil der von uns ausgewerteten Zeitreihen war zu kurz, um statistisch signifikante Trends zu ergeben“, erklärt Helge Bruelheide, Professor für Geobotanik an der Universität Halle und Mitherausgeber des FA. „Durch die unzureichende Datengrundlage sind auch die genauen Ursachen des Verlusts biologischer Vielfalt nur ungenügend bekannt. Das liegt vor allem daran, dass die von uns Menschen verursachten Einflüsse bislang entweder gar nicht oder nur unvollständig und in den meisten Fällen unabhängig von der Erfassung der biologischen Vielfalt erhoben werden“, ergänzt Josef Settele, Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und Mitherausgeber des FA.

Diese sechs großen Lebensräume wurden im Faktencheck Artenvielfalt untersucht: Agrar- und Offenland, Wald, Binnengewässer und Auen, Küsten und Küstengewässer, Urbane Räume und Boden. (Bild: Daniela Leitner / Faktencheck Artenvielfalt)
Diese sechs großen Lebensräume wurden im Faktencheck Artenvielfalt untersucht: Agrar- und Offenland, Wald, Binnengewässer und Auen, Küsten und Küstengewässer, Urbane Räume und Boden. (Bild: Daniela Leitner / Faktencheck Artenvielfalt)

Mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen

Klar belegbar ist, dass der Verlust von Lebensräumen und die Intensivierung der Nutzung von Kulturlandschaften den stärksten negativen Effekt auf die biologische Vielfalt haben, auch erste Auswirkungen des Klimawandels werden sichtbar. Die Intensivierung der Landwirtschaft hat negative Effekte in fast allen Lebensräumen, nicht nur im Agar- und Offenland, und bietet damit den größten Hebel für biodiversitätsschützende Ansätze. Der FA zeigt auch positive Entwicklungen einiger Artengruppen und Lebensräume, z.B. durch die Verbesserung der Wasserqualität unserer Flüsse und die Förderung natürlicher Strukturelemente in Wäldern und in der Agrarlandschaft. „Das zeigt, dass wir mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen können,“ erklärt Nina Farwig, Professorin an der Universität Marburg und FA-Mitherausgeberin. „Für eine echte Trendwende müssen wir die Natur verstärkt wiederherstellen. Vor allem aber müssen wir lernen, mit der Natur zu wirtschaften – nicht gegen sie. Das kann auch bedeuten, dass wir ökologische Folgekosten in Wirtschaftsberichten bilanzieren. Vor allem müssen neue biodiversitätsbasierte Landnutzungssysteme entwickelt werden. Moderne Technologien können hierbei helfen“.

Rechtliche und förderpolitische Instrumente der Naturschutzpolitik sind unzureichend umgesetzt oder vollzogen, oft durch eine fehlende Abstimmung mit anderen Nutzungsinteressen, kritisiert der FA. Förderungen knüpfen oft an die reine Durchführung biodiversitätsfördernder Maßnahmen an, dagegen versprechen erfolgsbasierte finanzielle Anreize einen größeren positiven Einfluss. Eine größere Verbindlichkeit könnte der Biodiversitätsschutz auch dadurch erhalten, wenn er an höherrangiges Recht geknüpft würde, beispielsweise in Form eines Menschenrechts auf gesunde Umwelt oder eines grundgesetzlich gewährleisteten Eigenrechts der Natur. Für das hierzu notwendige weitreichende Umdenken liefert FA Empfehlungen, denn die Wissenschaftler*innen haben erfolgreiche Projekte analysiert, um die Bedingungen für Transformation zu verstehen. Sie identifizieren eine Vielfalt von Motivationen und Akteur*innen, gelungene Partizipation und auch ökonomischen Nutzen als entscheidende Faktoren für erfolgreiche Ansätze.

Biologische Vielfalt zahlt sich aus

Biologisch vielfältige Ökosysteme sind leistungsfähiger und stabiler. Sie versorgen Menschen mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sie halten die Nährstoffkreisläufe aufrecht, schützen das Klima, halten das Wasser in der Landschaft. „Der Erhalt der Biodiversität sichert unser Wohlergehen, aber auch das Wirtschaften. Schützen wir die biologische Vielfalt, schützen wir also uns selbst“, erklärt Volker Mosbrugger, Sprecher der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA), in der das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Faktencheck Artenvielfalt gefördert hat. „Mit dem Faktencheck Artenvielfalt ist ein höchst beeindruckendes Referenz- und Nachschlagewerk entstanden, das die wissenschaftliche Basis legt, um praxisnahe, wirksame Maßnahmen zum Biodiversitätserhalt in Deutschland zu ergreifen.“

Urbane Räume und Biodiversität

Das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung ist maßgeblich am Kapitel „Urbane Räume“ des FA beteiligt, zu dessen Autorinnen und Autoren die Leiterin der Leibniz-IZW-Abteilung für Ökologische Dynamik, Prof. Dr. Stephanie Kramer-Schadt, zählt. „Städtische Lebensräume bieten Wildtieren Herausforderungen aber auch Chancen“, sagt Kramer-Schadt „Wir untersuchen, wie unsere wilden Mitbewohner im urbanen Raum zurechtkommen, wie sie ihn nutzen und welche Faktoren ihre Anpassungsfähigkeit beeinflussen. Dafür müssen wir verstehen, inwieweit menschlich bedingte Ursachen für das Vorkommen von Säugetier-Artengemeinschaften und ihre Dynamik verantwortlich sind.“ Der Faktencheck Artenvielfalt benennt die Bedeutung urbaner Räume für die Biodiversität, da sie eine große Zahl unterschiedlicher Habitate und Arten beherbergen können. Sie müssen daher im Fokus aktueller und zukünftiger Umweltpolitik stehen. Dafür seien der konsequente Schutz, eine naturnahe Gestaltung und die extensive Pflege von städtischen Grün- und Freiflächen, die ökologische Aufwertung von Gebäuden, eine Stärkung der Umweltbildung, standardisierte Datenerfassung und eine Ausweitung des urbanen Biodiversitätsmonitorings notwendig. Auch müsse städtische Biodiversität mit dahinterliegenden politisch-rechtlichen, ökonomisch-technologischen und gesellschaftlichen Treibern zusammengedacht werden.

Der wissenschaftliche Bericht „Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland“ erschien am 01. Oktober 2024 im oekom-Verlag und steht online zum kostenlosen Download bereit. Er wird von einer Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung flankiert.

Weitere Informationen zum Faktencheck unter www.feda.bio/faktencheck

Publikation

Wirth C, Bruelheide H, Farwig N, Marx JM, Settele J (Hrsg.): Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland. oekom-Verlag, 2024. ISBN: 978-3-98726-095-7 DOI: 10.14512/9783987263361

Kontakt

Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA)
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Senckenberganlage 25, 60325 Frankfurt

Nadine Leichter
Pressekontakt FEdA
Telefon: +49 (0)69 7542 1642
E-Mail: mail@feda.bio

Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)
im Forschungsverbund Berlin e.V.
Alfred-Kowalke-Str. 17, 10315 Berlin

Prof. Dr. Stephanie Kramer-Schadt
Leiterin der Abteilung für Ökologische Dynamik
Tel: +49(0)30 5168714
E-Mail: kramer@izw-berlin.de

Jan Zwilling
Wissenschaftskommunikation
Tel: +49 (0)30 5168121
E-Mail: zwilling@izw-berlin.de