Die vom Ukraine-Krieg zerstörten städtischen Gebiete in Charkiw sind für Fledermäuse tödlich - Verlust von Schlafplätzen und tödliche Fallen in zerstörten Gebäuden

Tote Große Abendsegler (Foto: Anzhela But)
Tote Große Abendsegler (Foto: Anzhela But)

Fledermäuse lassen sich an Windenergieanlagen (WEA) wirksam schützen, wenn die Anlagen bei hoher Fledermausaktivität zeitweise abgestellt werden. Über eine derartige Betriebssteuerung lässt sich ein Fledermaus-freundlicher Betrieb der Anlagen erreichen. Dennoch laufen rund zwei Drittel der WEA in Deutschland ohne diese Regulierung, da darauf abgestimmte Leitlinien erst nach deren Inbetriebnahme verabschiedet wurden. Ein Wissenschaftsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) ermittelte nun exemplarisch, dass an derartigen alten WEA in zwei Monaten mehrere Hundert Tiere zu Tode kommen können – an Anlagen mit Betriebssteuerung, die vergleichend untersucht wurden, starb im selben Zeitraum keine einzige Fledermaus. In einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Naturschutz und Landschaftsplanung“ schließt das Autorenteam, dass der Betrieb alter WEA dringend dem aktuellen Regelwerk angepasst werden müsse, um bedrohte Fledermäuse wirksam zu schützen und drohenden Bestandsrückgängen entgegen zu wirken.

In einer aktuellen Untersuchung zeigt ein Team um PD Dr. Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie des Leibniz-IZW, dass an alten WEA mitunter erhebliche Schlagopferzahlen zu verzeichnen sind, eine Fledermaus-freundliche Betriebssteuerung aber eine wirksame Maßnahme darstellt, um Schlagopfer zu vermeiden. Das Autorenteam suchte in zwei Monaten während der Zugzeit von Fledermäusen regelmäßig an WEA zweier Windparks nach Schlagopfern. Die WEA des einen Windparks standen auf der offenen Feldflur und wurden ohne eine an Fledermaus-Aktivität angepasste Betriebssteuerung betrieben. An diesen alten WEA fand das Autorenteam 37 Schlagopfer. Die WEA des zweiten, neueren Windparks standen in einem Kiefernforst und wurden in Zeiten hoher Fledermausaktivität abgestellt. Dort fand das Team keine Fledermausschlagopfer. Da Kadaver in der Natur von Krähen und Füchsen abgesammelt werden und selbst erfahrene Teams nur etwa ein Drittel aller toten Fledermäuse auch finden, korrigierte das Team die Zahlen entsprechend und rechnete hoch, dass im zweimonatigen Untersuchungszeitraum mehrere Hundert Fledermäuse an einer einzelnen WEA ohne angepasste Betriebssteuerung sterben können.

„Unsere Gesellschaft ist mit zwei großen Umweltkrisen konfrontiert, der globalen Klimaerwärmung und dem Schwund der biologischen Vielfalt“, erläutert Voigt. „Manchmal verstärken Maßnahmen zur Bekämpfung der einen Umweltkrise das Ausmaß der zweiten Umweltkrise – so verhält es sich beim Ausbau der Windenergieproduktion, wenn durch Kollision an WEA Fledermäuse und Greifvögel versterben.“ Für Fledermäuse gäbe es jedoch eine praktikable Lösung, um dies zu vermeiden. Der Betrieb der Anlagen ließe sich so steuern, dass nur in Zeiten geringer Fledermausaktivität Windenergie produziert wird. Der Ertragsverlust der WEA würde lediglich 1-4 % der jährlichen Energieproduktion betragen, der Nutzen für die Natur wäre jedoch immens.

Große Abendsegler - gefangen im Kastenfenster im ukrainischem Kriegsgebiet

Todesfalle Kastenfenster - Große Abendsegler im Ukraine-Kriegsgebiet (Foto: A. But)
Todesfalle Kastenfenster - Große Abendsegler im Ukraine-Kriegsgebiet (Foto: A. But)

Der russische Krieg in der Ukraine hat nicht nur schwerwiegende Folgen für die Menschen, sondern wirkt sich auch negativ auf die Populationen städtischer und halbstädtischer Wildtiere in den angegriffenen Städten und Regionen aus. Wissenschaftler:innen des ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums untersuchten vor kurzem die Auswirkungen der kriegsbedingten Gebäudeschäden auf die städtischen Populationen einer wichtigen und weit verbreiteten Fledermausart, der große Abendsegler (Nyctalus noctula), in der Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine. Die Ergebnisse zeigen, dass viele Gebäude, die von Fledermäusen als Schlafplätze genutzt werden, zerstört und etwa 7.000 Fledermäuse getötet wurden. Darüber hinaus sind teilweise zerstörte Gebäude zu einer tödlichen Falle für Fledermäuse geworden, was zu mehreren tausend weiteren Opfern führte. Die Ergebnisse wurden im "Journal of Applied Animal Ethics Research" veröffentlicht.

Die Aufgabe des Ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums (UBRC) ist der Schutz, die Rettung und die langfristige Erforschung von Fledermäusen, wobei die Region Charkiw im Mittelpunkt der Bemühungen steht. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine und einer der Orte, an denen die Konflikte zwischen den ukrainischen und russischen Streitkräften bisher am intensivsten waren. UBRC-Direktor Dr. Anton Vlaschenko, der auch für das Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) forscht, sagt: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass 45,1 % der Gebäude, die als Winterquartiere für Abendsegler genutzt werden, entweder teilweise beschädigt oder vollständig durch Beschuss zerstört wurden, was zur direkten Tötung von etwa 7.000 Fledermäusen geführt haben könnte." Darüber hinaus ist die kriegszerstörte städtische Umwelt in Charkiw zu einer tödlichen Falle für die Fledermäuse während der Herbstwanderung oder des Schwärmens geworden. „Fledermäuse drangen durch offen gelassene oder durch Druckwellen zerbrochene Fenster in das Innere von Gebäuden ein und wurden so eingeschlossen", sagt die ehemalige Leibniz-IZW-Doktorandin Dr. Kseniia Kravchenko vom UBRC.

Von Menschen offen gelassene und/oder durch Druckwellen zerbrochene Fenster stellen eine erhebliche Gefahr für wandernde Fledermäuse dar. Vorallem defekte Fensterrahmen sind sehr gefährlich für Fledermäuse. Einige der Fenster in der Stadt sind mit alter Doppelverglasung versehen - zwei Rahmen mit einem Zwischenraum - und die Fledermäuse bleiben in der Mitte gefangen. „Das Problem ist in Charkiw seit den 1960er Jahren bekannt, und der Krieg verschärft es, indem es immer mehr von Menschen geschaffene Fallen für Fledermäuse gibt“, erklärt Vlaschenko. Vor dem Krieg retteten die UBRC-Wissenschaftler:innen während der herbstlichen Fledermauswanderung bis zu 500 Fledermäuse aus solchen Fenstern. Infolge des Krieges war die Zahl der in teilweise beschädigten Gebäuden und/oder verlassenen Wohnungen gefangenen Fledermäuse dreimal so hoch wie in den Vorjahren. Fast alle der gefangenen Fledermäuse waren Abendsegler. Das Team berichtet, dass es 2.836 große Abendsegler entdeckte, die in durch Beschuss beschädigten Gebäuden gefangen waren, und dass etwa 30 Prozent von ihnen bei der Entdeckung bereits tot waren. Der große Abendseger fiegt in Gruppen und diese Gruppen können sich in Städtischen Strukturen verirren. „Die Größe der eingeschlossenen Fledermausgruppen war eindeutig höher als in den Vorjahren, vor allem in den durch den Krieg am stärksten beschädigten Stadtteilen wie Saltivka“, berichtet Kravchenko. Allein in den ersten Wochen des Krieges (Februar - März 2022) wurde fast die Hälfte der Gebäude, die als Winterquartiere der großen Abendsegler bekannt sind, durch russischen Beschuss teilweise (31,4 %) oder vollständig (13,7 %) beschädigt, was zur direkten Tötung Tausender von Fledermäusen geführt haben könnte.

Die Zahl der Fledermäuse in Charkiw war im Jahr 2022 außergewöhnlich hoch, da sich die Abendsegler den ganzen Herbst über im Stadtgebiet von Charkiw aufhielten. Die Wissenschaftler:innen stellten außerdem fest, dass diese Fledermäuse eine größere Körpermasse als üblich hatten. Diese Veränderungen könnten eine Folge der Zerstörung der Straßenbeleuchtung und der Kraftwerke in Charkiw und den meisten Siedlungen in der Ukraine seit Beginn des Krieges gewesen sein. Das Fehlen von künstlichem Licht könnte dazu führen, dass mehr Fledermäuse in die Stadt eindringen, da dadurch jegliche „Lichtbarrieren" für nachtaktive Tiere beseitigt wurde und eine rasche Erholung der nachtaktiven Insektenpopulationen begünstigt wurde.

„Der Krieg hat unser Leben und das der Fledermäuse vor viele neue Herausforderungen gestellt, aber wir lassen uns nicht von unserer Mission abbringen, die Wildtiere zu schützen und den aktuellen Kontext zu nutzen, um so viel wie möglich über unsere Lieblingstiere zu lernen", erklärt Vlaschenko. Der Krieg hat die Arbeitsbedingungen extrem erschwert, aber das Team des ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums bleibt aktiv und rettet weiterhin Fledermäuse, sammelt Daten, führt Workshops durch und arbeitet mit vielen Wissenschaftler:innen und Instituten in der Ukraine und darüber hinaus zusammen, beispielsweise mit dem Leibniz-IZW.

Publikation

Vlaschenko A, Shulenko A, But A, Yerofieiva M, Bohodist V, Petelka M, Vovk A, Zemliana K, Myzuka D, Kravchenko K, Prylustka A (2023): Die kriegsgeschädigte städtische Umwelt wird zur tödlichen Falle für Fledermäuse: Ein Fall aus der Stadt Charkiw (Nordostukraine) im Jahr 2022. Journal of Applied Animal Ethics Research, 5(1), 27-49. DOI: 10.1163/25889567-bja10035

Kontakte

Anton Vlaschenko
Direktor des Ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums, Ukrainisches Unabhängiges Ökologie-Institut, Plechanow-Straße 40, 61001 Charkiw, Ukraine

Nationales wissenschaftliches Zentrum „Institut für experimentelle und klinische Veterinärmedizin", Pushkinska St., 83, Kharkiv 61023, Ukraine

E-Mail: anton.vlaschenko@gmail.com  

Ksenija Krawtschenko

Wissenschaftlerin des Ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums, Ukrainisches Unabhängiges Ökologie-Institut, Plekhanov-Str. 40, 61001 Kharkiv, Ukraine

Wissenschaftlerin der Universität Lausanne, Abteilung für Ökologie und Evolution, CH-1015 Lausanne, Schweiz

E-Mail: kseniia.a.kravchenko@gmail.com

Steven Seet / Jan Zwilling

Wissenschaftskommunikation am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW), Alfred-Kowalke-Straße 17, 10315 Berlin, Deutschland

Telefon: +491778572673 / +49305168121

E-Mail: seet@izw-berlin.de / zwilling@izw-berlin.de